Hinweis: Da es einige der Bücher, die ich hier vorstelle, noch aktuell im Handel gibt, kann es sein, dass es sich bei diesem Beitrag um unbezahlte und unaufgeforderte Werbung handelt. Macht aus dieser Info, was ihr wollt.
Gerbrand Bakker: Jasper und sein Knecht
Der niederländische Autor mittleren Alters hat sich in der Eifel ein
altes Haus gekauft und sich einen Hund (Jasper) zugelegt, und zwar, wie seine
Brüder bemängeln, ohne vorher auch nur wenigstens den Führerschein zu machen.
Das wäre eigentlich so ganz ein Buch nach meinem Geschmack: Jemand werkelt im
Garten herum, fährt mit dem Rad zum Einkaufen, bekommt ab und zu mal Besuch,
erzählt was vom Leben als Schriftsteller, vergleicht die deutsche und die
niederländische Sprache: So was lese ich gerne. Es stört mich aber sehr, dass
er Jasper ständig ohne Leine laufen lässt, was der natürlich zum Ausbüxen
nutzt. Und, ebenso natürlich, zum Hetzen von Wildtieren. Oder einmal sogar zum
Totbeißen einer jungen Katze. Das finde ich einfach nicht in Ordnung. Entweder bleibt
ein Hund brav bei Fuß, und wenn im drei Rehe gleichzeitig vor der Nase
rumscharwenzeln, oder er gehört an die Leine, Punkt, fertig, aus. Da der Hund
und seine Neigung zum Stiftengehen ein ganz zentraler Bestandteil des Buchs
sind, nervte mich das halt auch immer wieder.
James Rebanks: Mein Leben als Schäfer
Und gleich im Anschluss ein Buch von jemandem, der schon berufsbedingt
was gegen freilaufende Hunde hat. Schäfer finden so was auch nicht witzig. Lämmer
sind genauso schnell tot wie Rehkitze.
James Rebanks lebt im Lake District und züchtet Schafe, wie sein Vater
und sein Großvater vor ihm. Er beschreibt seinen Arbeitsalltag auf dem Hof, die
Veränderungen in der regionalen Landwirtschaft, das Spannungsverhältnis
zwischen Alteingesessenen, Zugezogenen und Touristen, das zwischen den
Generationen, und vor allem sein persönliches Verhältnis zu seiner Arbeit und
seinem Leben, denn auf einem Hof hängt beides untrennbar zusammen. Man hat
nicht einfach Feierabend und ist dann kein Schäfer mehr. Wie man sich denken
kann, hat Mr. Rebanks noch einen zweiten Job, sonst hätte er wohl auch keine
Zeit zum Bücherschreiben. Das wird wohl überall so sein, wo die Landwirtschaft
nicht so viel Ertrag abwirft. Was mir besonders gefallen hat: Er ist ziemlich
reflektiert. Es ist nicht so, dass die Bauern immer die Guten sind oder alles
richtig machen, und die Stadtmenschen und Touristen die naturfernen
Karrieristen oder verträumten Spinner sind. Oder dass früher alles besser war. Oder
dass Landwirtschaft immer nur schön und idyllisch ist. Das Buch ist wirklich interessant
und informativ, flüssig geschrieben und noch mit ein paar sehr schönen Schaffotos
garniert. Auch die Übersetzung ist gut gelungen.
Andrew Michael Hurley: Loney
Ich bin versucht, das Buch einen Schauerroman zu nennen. Das klingt,
als wäre es 200 Jahre alt… ist aber von 2017. Aber egal – Horror ist das nicht,
aber gruselig. Der Erzähler Tonto erinnert sich an seine Jugend in einer streng
katholischen Familie. Sein älterer Bruder Hanny ist stumm und geistig
zurückgeblieben. Mit dem neuen Gemeindepfarrer unternimmt die Familie über
Ostern eine „Pilgerfahrt“ in ein einsames Haus an der nordenglischen Küste. Gebete
Messen und der Besuch einer wundertätigen Quelle als Abschluss und Highlight
sollen nicht nur den Glauben erneuern, sondern vor allem Hanny heilen. Die
Bewohner der Küstengegend sind teils feindselig, teils verängstigt. Auch wenn
die Erwachsenen es nicht wahrhaben wollen, merken die beiden Jungs doch bald,
dass hier Unheimliches vor sich geht.
Die gruselige Atmosphäre wird durch teilweise sehr klassische
Versatzstücke geschaffen: Ein einsamer, rauer Landstrich, ein unbewohntes Haus,
eine voodooartige Puppe, die nachts im Wald gefunden wird, vor allem aber durch
die geschickte Interaktion der Personen: Der sadistische alte Pfarrer, der sich
mit seiner eigenwilligen Glaubensauffassung völlig im Recht wähnt, sein freundlicher,
pragmatischer Nachfolger, dessen gesundem Menschenverstand man immer
beipflichten möchte, (obwohl man irgendwann argwöhnt, dass der hier nicht
weiterhelfen wird) die Mutter, die Hanny um jeden Preis geheilt wissen möchte,
und der halbwüchsige Tonto, der versucht, seinen körperlich schon erwachsenen
Bruder zu beschützen. Gut gelungener Grusel.
Antal Szerb: Reise im Mondlicht
Der Mittdreißiger Mihály ist mit seiner Frau Erzsi auf Hochzeitsreise in
Italien. Mihály wird durch allerhand Begebenheiten und Begegnungen an seine
Jugendzeit erinnert, die durch eine enge Freundschaft zu einem sehr
unkonventionellen Geschwisterpaar geprägt wurde. Er erkennt, dass die Heirat
mit Erzsi ein weiterer Versuch war, sich an die bürgerliche Erwachsenenwelt
anzupassen, in der er sich im Grunde nicht heimisch fühlt. Als Mihály in einen
falschen Zug einsteigt, nimmt die Gelegenheit war, wie ein Schuljunge
wegzulaufen und lose Enden aus der Vergangenheit miteinander zu verknüpfen.
Erzsi erkennt ihrerseits, dass sie in dieser Ehe vor allem einen Ausweg aus
ihrem allzu braven, geordneten Leben gesucht hat. Das klingt nach einem
seltsamen Beziehungsgeschwurbel, ist aber eher poetisch und geheimnisvoll. Ein
sehr schönes Buch, dass eine Reisebeschreibung mit einem Hauch Phantastik, boshaftem
Humor, subtiler Erotik und viel Selbstfindung verbindet. Geschrieben von einem
Literaturwissenschaftler, der eine Menge Kunst und Kultur mit untergebracht
hat.
Willem Frederik Hermans: Die Dunkelkammer des Damokles
Im weitesten Sinne ist das Buch eine Art Agentengeschichte, aber wir
haben es hier eindeutig mit ernsthafter Literatur zu tun. Das ist kein Schund. Henri
Osewoudt hat es nicht leicht hat im Leben: Als er 12 ist, tötet seine Mutter im
Wahn seinen Vater, den niemand betrauert. Er wächst bei Verwandten auf,
heiratet mit 19 seine hässliche, ältere Cousine, die ihn schon als Jungen
verführt (um nicht zu sagen: missbraucht) hat, und führt den Laden seines
Vaters weiter, damit sein inzwischen wieder frei gelassenen Mutter bei ihm wohnen kann. Er fürchtet, dass sein Leben damit eigentlich schon zu Ende ist. Noch
dazu leidet er darunter, klein und mädchenhaft schmal zu sein und keinen
Bartwuchs zu haben. Kurz nach dem Einmarsch der Deutschen bittet ihn der
niederländische Offizier Dorbeck, für ihn einen Film zu entwickeln. Dorbeck
sieht aus wie Ousewoudts Zwilling und ist genauso, wie er selbst gerne wäre:
selbstsicher und entschlossen arbeitet er im Untergrund gegen die Deutschen. In
seinem Auftrag führt Ousewoudt ohne mit der Wimper zu zucken Anschläge und Auftragsmorde
aus, lernt die große Liebe seines Lebens kennen und gerät in deutsche Gefangenschaft.
Nie verlässt ihn aber das Gefühl, dabei nur ein Produkt oder eine Kopie
Dorbecks zu sein. An der Stelle haben wir ungefähr ein Drittel der Geschichte
gelesen – an Handlung mangelt es wahrlich nicht. Ein spannendes, kluges und
dabei irgendwie dezent deprimierendes Buch: Keiner kann aus seiner Haut raus,
und das Schicksal kennt kein Mitgefühl.
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